Zitronenkind

Ach Du meine Güte. Da musste ich so alt werden, um erst jetzt von einem Stachelschwein zu erfahren, dass Zitronen schon vor dem Frühling reif werden?

Da hat mich die Zitrone all die Jahre glauben lassen, dass es um sie herum wohlig warm sein muss und die Ernte deshalb ganz sicher im Sommer vonstatten geht. Schließlich sind Zitronen spritzig, wie der Gartenschlauch im Sommer, frisch wie ein erfrischendes Zitronensorbet und prickelnd wie eine rosarote Himbeerfassbrause! Kälteempfindlich sind Zitronen auch – sie brauchen die Sonne und das nicht nur aufgrund ihrer sonnengelben Farbe.

Alles handfeste Argumente dafür, dass Zitronen im Sommer reif sind und vom Baum fallen, oder?

Das Stachelschwein schüttelt den Kopf und fragt die kleine Zitrone, die noch immer am Baum hängt, ob sie denn nicht endlich herunterfallen wolle. „Na Leckeres Zitrönchen, willst Du da oben auf den Frühling warten?“

Noch ehe die Zitrone darauf antworten kann, merke ich, dass ich scheinbar keine Ahnung vom Leben und der Entwicklung einer Zitrone habe. Schnell recherchiere ich das Einmaleins der Zitronenernte und stoße ganz nebenbei auf wunderbare Eigenschaften dieser kleinen Frucht. Erfrischend und vitalisierend sind die quietschgelben Vitaminpakete, und als wäre das nicht schon zauberhaft genug, sind sie auch noch Symbol für die Liebe, die Fruchtbarkeit und das ewige Leben.

Das Stachelschwein schaut mich fragend an und streckt all‘ seine Stacheln in sämtliche Himmelsrichtungen aus. „Wolltest Du nicht etwas vom Zitronenkind erzählen?“

„Zitronenkind“ von Nele Brönner (zu finden beim Nord Süd Verlag) ist ein Kinderbuch, das auf allen 28 Seiten witzig und spritzig von Gemeinschaft und Ausgrenzung erzählt. Dass Anderssein nicht selten Ablehnung nach sich zieht, ist ein gestern wie heute aktuelles Thema.

Zitronenkind Toni, weiß das nur zu gut, denn er ist, im Gegensatz zu all den anderen Zitronen, grasgrün. Natürlich färbt das auch auf seine Stimmung ab: Toni ist so richtig sauer! Seine Geschwister erfreuen sich ihrer sonnengelben Farbe, plappern und kichern und schaukeln ihre runden Bäuche in der Sonne. Was aber das Gemeinste ist: sie lachen Toni aus, verspotten ihn und machen sich über ihn lustig.

Toni reagiert trotzig und verärgert und zeigt sich äußerlich unbeeindruckt vom Gelb seiner Geschwister. Nach und nach fallen alle Zitronen gelb und rund und reif vom Baum. Nur Toni hängt noch immer in den Zweigen, und er denkt gar nicht daran herunterzuspringen.

Toni ist nun ganz allein, fast ein bisschen einsam. Schließlich kommt der Affe aus dem Nachbargarten, und er wundert sich: „Willst Du nicht auch springen und die Welt sehen?“

Und auch das Käuzchen fragt sich, wie es für Toni ist, so ganz allein auf dem Zitronenbaum?

Nachts kommt das Stachelschwein vorbei. Und weißt Du noch, was es Toni fragte?

Natürlich möchte Toni nicht auf den Frühling warten. Er zappelt und wackelt und ruckelt so lange herum, bis er schließlich, angeschubst von einer kräftigen Herbstböe, in das hohe Gras fällt. Von dort aus kann er den Himmel sehen und allein das macht die Welt um ihn herum anders, größer und bunter. Dass seine Geschichte für ihn ganz außergewöhnlich und gar nicht so, wie für „gewöhnliche“ Zitronen vorherbestimmt, weitergeht, weiß Toni an dieser Stelle noch nicht.

Er ist einfach einzigartig, so wie Du und Ich und Wir. Und genau das macht uns alle, jeden Einzelnen so liebenswert.

Die Geschichte rund um Toni und seine Geschwister ist alltagsnah und berichtet kindgerecht und altersadäquat (Lesealter ab ca. 4 Jahre) vom „Gemeinsam-sein“ und „Einsam-sein“. Lustig und mit Wortwitz fliegen kleine verbale Gemeinheiten zwischen den Zitronen hin und her.  Der veränderte Fokus lässt Toni am Ende nicht nur den Himmel entdecken, sondern eine Welt, die möglicherweise viel größer ist, als er dachte.

„Zitronenkind“ ist sehr ansprechend illustriert. Die doppelseitigen Bilder eröffnen Farbkontraste, die insbesondere gelb und grün kombinieren. So, wie die beiden Farben im Farbkreis nahe beieinanderliegen, hängen sie in „Zitronenkind“ am Baum und schmücken die Geschichte frisch und vital aus.

Nun frage ich mich nur:

„Ziehen sich Gegensätze an?“ oder „Gesellt sich gleich und gleich gern?“ Darüber werde ich demnächst einmal genauer nachdenken; vielleicht bei einem Tässchen Zitronentee.