Vor gar nicht allzu langer Zeit waren wir alle zu Hause, jeder für sich in seinen eigenen vier Wänden. Wir haben uns in Abstand und Quarantäne geübt und die Welt um uns herum fühlte sich sehr befremdlich an. Damals hieß es: Singen sei gefährlich, da es, aufgrund des Ausstoßes an Aerosolen mit einem besonderen Risiko verbunden sei.
Trotzdem hatten wir einen Weg gefunden, der uns das Musizieren und Singen ermöglichte und zudem der nötigen Distanz gerecht wurde.
Das digitale Musikzimmer war ins Leben gerufen, Mikrofone und Looper waren schnell angeschafft, Videokamera, Scheinwerfer und Leinwände ebenfalls.
Ungefähr zu dieser Zeit ist auch das Lied „Ich lade Dich ein“ entstanden, das meine Musikkinder und deren Familien direkt ins digitale Musikzimmer eingeladen hat, um dort zu Gast zu sein und auf die Ferne mit mir zu singen. Thema in diesem Lied ist es, unser Zuhause und den Alltag um uns herum zum Singen und Klingen zu bringen. Doch wie konnte das Funktionieren: das Zuhause zum Klingen bringen, ohne das kunterbunte Musikschul-Equipment zur Hand zu haben?
Gemeinsam haben wir also überlegt, was wir kurzer Hand umfunktionieren könnten. Schnell war der Kochtopf samt Holzkochlöffel zur Trommel geworden und Pappkarton, Sieb, Flaschen, Kamm und ähnliches hatten eine neue Bestimmung gewonnen.
Auch die Tageszeitung konnten wir hervorragend als kreatives Begleitinstrument in unser Lied einbauen (natürlich erst, als sie in ihrer eigentlichen Funktion ausgedient hatte und „aus“gelesen war).
Unserer Zeitung soll hier und jetzt auch alle Aufmerksamkeit gewidmet sein, denn sie ist der Star dieses Blogbeitrages.
Eine Tageszeitung ist für den Einen eine äußerst spannende Informationsplattform und ein ritualisiertes Equipment im Tagesverlauf. Für den Anderen ist sie vielleicht ein emotions- und farbloses, schnödes Etwas, das wenig Reiz ausstrahlt. Die Zeitung, die uns im digitalen Musikzimmer an passender Stelle im Lied den Raschel- und Knistersound geliefert hat, war keinesfalls emotionslos und schnöde. Ganz im Gegenteil: sie war spontan zu einem unserer Ausdrucksmittel im Lied „Ich lade Dich ein“ geworden und damit ganz besonders bedeutungs- und eindrucksvoll.
José Sanabria und María Laura Díaz Domínguez zeigen uns in ihrem empfehlenswerten Kinderbuch
„Ein Blatt im Wind“,
dass eine Zeitung nicht gleich eine Zeitung ist, sondern ganz unterschiedliche Bedürfnisse erfüllen kann.
Fragt man mich, wozu denn eine Zeitung überhaupt nützlich sei, so ist meine Antwort auf die Schnelle sicherlich, dass man darin lesen und sich informieren könne. Doch schon während ich das so platt aufschreibe, habe ich einen Zeitungshut im Sinn, einen großen papiernen Hut, verziert durch unzählige zerknickte Wörter und gefaltete Buchstaben. Spitz ragt er in die Luft und ist als Kopfbedeckung, Sonnenschutz oder alleinig zur Zierde gut zu gebrauchen.
„Aus einer Zeitung kann man außerdem eine coole Collage basteln“, ruft Kind Nummer 1, was Kind Nummer zwei durch „oder einen geheimen Brief“ ergänzt. „Und Geschenke haben wir auch schon in Zeitungspapier verpackt.“
„Ein Blatt im Wind“ berichtet davon, wie eine Zeitung von einem Wind erfasst und durcheinander gewirbelt wird. Jedes ihrer Blätter geht, vom Wind getragen, auf eine andere Reise und erreicht unterschiedliche Orte und Menschen.
Der Wind trägt eines der Zeitungsblätter direkt durch das Fenster zu einer bekümmerten Frau, deren einzige Aufgabe das Putzen ihres Hauses zu sein scheint. Sie hebt das Zeitungsblatt auf und, als wäre es das Normalste der Welt, putzt sie damit ihren Spiegel blitzeblank.
Ein anderes Blatt trägt der Wind durch die Straßen und direkt vor die Füße einer Mutter. Sie greift nach dem Zeitungsblatt und nimmt es mit sich, als Schmutzauffang für den Vogelkäfig zu Hause.
Ob als Putzutensil oder Käfigeinlage, José Sanabria und María Laura Díaz Domínguez finden in ihrem ausdrucksstarken Kinderbuch „Ein Blatt im Wind“ noch viele andere Bestimmungen, die den einzelnen Seiten der Zeitung zu eigen werden.
Eine Zeitung ist eben nicht gleich eine Zeitung. Sie ist viel mehr, als ein Blatt, in dem ich lese und mich informiere. Eine Zeitung hilft bei Kälte und bei Regen. Sie dient, gefaltet, als Spielzeugschiffchen oder Kopfbedeckung, bietet sich als Versteck vor fremden Blicken an oder als Papier, um einen Blumenstrauß darin einzuwickeln.
Vielleicht hast auch Du eine Zeitung schon einmal ganz anders benutzt?
Das Kinderbuch „Ein Blatt im Wind“ zeigt auf, dass sowohl unser Blickwinkel als auch das Drumherum, das uns umgibt, beeinflussen, wie wir etwas sehen und wie wir es für uns bewerten.
Die Geschichte lädt ein, mit offenen Augen und Fantasie im Kopf durch die Welt zu gehen, um Ecken zu denken und die Dinge von allen Seiten zu betrachten. „Ein Blatt im Wind“ beschreibt auf philosophische Weise, wie Alles irgendwie und irgendwo miteinander verknüpft ist: die Schicksale der Menschen, die mit ein und derselben Zeitung in Berührung kommen, von der Herstellung bis zum Druck, über den Transport hinaus, bis in den Kiosk und schließlich in die unterschiedlichsten Wohnungen und Leben hinein. „Ein Blatt im Wind“ würdigt die Presse und das Zeitungswesen sowie das Lesen im Allgemeinen und lenkt den Blick der jungen Leserschaft auf das klassische, gedruckte Medium.
Der Zeitung in „Ein Blatt im Wind“ wird Persönlichkeit eingehaucht, da die Geschichte aus Sicht der Zeitung geschrieben ist. Sie denkt und fühlt, fragt sich, wann sie endlich beginnt, ihre eigene Geschichte zu leben, nachdem alle anderen Zeitungen schon abgeholt waren. Die Zeitung trägt den Namen „El Barco“, was übersetzt „das Schiff“ bedeutet. Ähnlich einem Schiff, das durch die Wellen des Meeres angetrieben und auf die Reise geschickt wird, geht es unserer Zeitung, die bestimmt durch die Windrichtung, verschiedene, unvorhersehbare Wege einschlägt.
„Ein Blatt im Wind“ ist ein empfehlenswertes Bilderbuch mit Tiefgang, das José Sanabrias Illustrationen künstlerisch und besonders machen.
Das Kinderbuch „Ein Blatt im Wind“, von José Sanabria und María Laura Díaz Domínguez, wurde mir vom NordSüd Verlag als Rezensionsexemplar zur Buchbesprechung zur Verfügung gestellt.
Bibliografie: Autoren: José Sanabria und María Laura Díaz Domínguez, Illustrator:José Sanabria, durchgehend farbig illustriert, Deutsche Übersetzung: Gabriela Stöckli, Lektorat: Katja Alves, NordSüd Verlag AG, Franklinstraße 23, CH-8050 Zürich, 1. Auflage 2018, Sprache: deutsch, gebundene Ausgabe, 48 Seiten, Lesealter ab 5 Jahren, Abmessungen: