Einmal Feinsinn bitte

Wenn das Jahr aus Farben bestünde und jeder Tag eine andere Farbnuance für sich beanspruchen würde, dann wäre mein Tag heute MAUSGRAU. Bestimmt trägt das Wetter vor dem Fenster seinen Teil dazu bei: die bunten Blätter sind längst von den Bäumen geweht und der Himmel hängt voller Regenwolken. Es scheint fast so, als hätten die Regentropfen der vergangenen Wochen alles BUNT aus meiner Welt gewaschen – zumindest aus der Welt vor dem Fenster. Selbst der erste Schnee hat nichts von weißer Pracht, sondern erinnert viel mehr an einen grauen Rest, der lustlos vor sich hinschmilzt.

Morgen beginnt die Adventszeit. Die Kinder freuen sich darauf, das erste Adventstürchen zu öffnen und ich nehme mir vor, endlich ein bisschen Weihnachtsglitzer in den eigenen vier Wänden zu verteilen. Schließlich soll es auch nach Advent aussehen – und ein bißchen Glitzer täte dem ALLTAGSGRAU im Moment wirklich gut! Wenn sich das Jahr dem Ende neigt und die Weihnachtszeit vor der Tür steht, hole ich gern Erinnerungen heraus, Erinnerungen an früher. Wir schauen uns Fotos an und erzählen uns, wie es früher an Weihnachten war. Es ist schön in Erinnerungen zu schwelgen und besonders schön ist es, den eigenen Kindern von früher zu erzählen. In solchen Momenten, wenn Du und ich zusammensitzen und Erinnerungen austauschen, dann scheint die Zeit tatsächlich etwas langsamer zu gehen – ob das am allgemeinen Durchatmen zum Jahresende liegt oder der allseits ersehnten Besinnlichkeit im Advent, das weiß ich nicht.

Früher, und damit meine ich nicht das „Früher“, als ich selbst noch ein Kind war, sondern das „Früher“ der jüngeren Vergangenheit: da haben wir uns oft zusammengekuschelt und ich habe Dir vorgelesen. Jeden Abend und immer dann, wenn es nichts anderes zu tun gab, habe ich vorgelesen. Man könnte fast meinen, ich habe mich um Kopf und Kragen gelesen. Es ist wirklich ein Wunder, dass in all‘ den Büchern überhaupt noch Buchstaben übrig sind. Manche Bücher haben wir immer und immer wieder gelesen. Dann konntest Du jedes Wort auswendig und hast sofort bemerkt, wenn ich mich an irgendeiner Stelle verlesen oder einen Satz weggelassen habe.

In der Adventszeit habe ich einen Korb mit Kinderbüchern bestückt, die sich mit der Winter- und Weihnachtszeit beschäftigen. Die schönsten dieser Bücher stehen noch heute im moosgrünen Bücherschrank im Musikzimmer und erinnern mich an uns und unser „Früher“.

Und auch, wenn Du heute größer bist und wir seltener gemeinsam in Bilderbüchern schmökern, so hast auch Du die Freude an schönen Kinderbüchern nicht verloren – genau wie ich.

 

Kinderbücher sind ein großer und wunderbarer Schatz. Sie entführen in Fantasiewelten, machen Bilder im Kopf und zaubern eine parallele Wirklichkeit, die heilsam sein kann, besonders dann, wenn der Alltag um uns herum besonders tobt.

In der Advents- und Weihnachtszeit empfinde ich heute oft einen großen Mangel an Besinnlichkeit. Ich wünschte mir mehr Hier-und-Jetzt und mehr Zeit für uns, mein Kind. Zeit zum Zusammenkuscheln und Vorlesen, Zeit zum Erinnern und Rückblicken. Und besonders in der Advents- und Weihnachtszeit wird mir bewusst, dass das Größte im Kleinen zu finden ist. Das Größte bist Du, mein Kind, das Größte sind Wir.

Wie wichtig Familie ist und wonach wir uns alle an Weihnachten sehnen, dass erzählt auch das wunderschöne Bilderbuch „Stille Nacht, fröhliche Nacht“. Julie Völk transportiert auf 32 ganzseitig illustrierten Seiten poesie- und gefühlvoll Weihnachtszauber und Geborgenheit. Die Geschichte skizziert eine glitzernde Schneelandschaft, in der wenig Farben und keine Worte genügen, um die Ruhe zu transportieren, die sich auf die schneebedeckte Erde legt.

 

Von Weitem nähert sich eine Karawane, die fast in der Landschaft zu verschwimmen scheint. Sie bewegt sich in Richtung Stadt, wo das emsige Treiben der Menschen die Stille und Weite der Umgebung auflöst. Schließlich erkennen die Menschen, dass ein Zirkus in die Stadt kommt. Sie freuen sich und beobachten die bunte Karawane, wie sie durch die Straßen rollt und schließlich weiter und wieder aus der kleinen Stadt hinausfährt.

Heute fahren die Menschen im Zirkus nicht zu einer ihrer schillernden Zirkusvorführungen. Heute fahren sie nach Hause zu ihren Familien. Die Weihnachtszeit lässt sie heimkehren.

Julie Völk erzählt ausschließlich mit Farben und Formen. Sie nutzt Aquarelle, in denen Weiß, Blau und Grau einen zarten Teppich weben, auf dem in sanfter Strichführung das Leben pulsiert. Die warmen Lichter der Straßenlaternen und der beleuchteten Fenster lassen mich Gemütlichkeit erkennen.

 

Und obwohl die Menschen in der Stadt mit ihren Weihnachtsvorbereitungen beschäftigt sind, strahlen die Illustrationen Ruhe und Besinnlichkeit aus. Parallel zur Heimkehr der Zirkusleute in ihre Familien, wechselt die Farbgebung vom Blau zum Orange, vom Unterwegssein zum Ankommen.

„Stille Nacht, fröhliche Nacht“ verzichtet auf Worte und lädt dadurch ein, die Tiefe der Bilder mit eigener Fantasie zu füllen. Umso schöner ist es, gemeinsam zu schauen, durchzublättern, zu philosophieren und sich auf Weihnachten in Familie zu freuen.

Bibliographie: 1. Auflage 2017, Gerstenberg Verlag, Hildesheim, Autorin / Illustratorin: Julie Völk, Seiten: 32, Preis: 16,95 €, Altersempfehlung Redaktion: 4 Jahre

ISBN-13: 978-3-8369-5602-4