Auf den Flügeln der Fantasie …
… reitet das Kind mit großen Augen, den Mund zu einem „Oh“ geformt, und staunt über diese Welt: Wo kommen nur all‘ die bunten Farben her und wer hat sie, scheinbar wahllos, hierhin und dorthin gekleckst? Wie weit ist der Himmel entfernt und wie hoch müsste ich springen, um den Mond zu berühren? Was kommt wohl hinter dem Himmelblau und sind Regentropfen die Tränen der Welt? Warum ist der Meeresgrund tief und das Sternenzelt hoch? Könnte ich das umdrehen, wenn ich nur oft genug Purzelbäume machte?
Das Kind auf den Flügeln der Fantasie legt sich nachdenklich hin, verschränkt die Arme hinter seinem kleinen Kopf, in dem so viele Fragen umherschwirren und so viele Gedanken gedacht werden. Es ist ganz still und trotzdem hört es die Stimmen der Welt tief in sich erzählen. Wo fliegen die Lieder hin, die gesungen werden? Und wohin schweben die Worte, die wir sagen?
Da kommt eine Seifenblase geflogen. Das Kind streckt die flache Hand nach ihr aus, so dass sie landen kann.
Sie schimmert in allen Farben. Das Kind spiegelt sich in ihr. ‚Das bin ich.‘, denkt es und lächelt sich an.
Wie es sich wohl anfühlen würde, wenn ich Du wäre? Wäre ich dann trotzdem ich, nur anders? Da zerplatzt die Seifenblase und es bleibt ein nasser Fleck zurück. ‚Vielleicht ist es auch ein Regentropfen.‘, denkt das Kind und schaut zum Himmel hinauf. Und es fragt sich erneut: ‚Sind Regentropfen die Tränen der Welt?‘
„Kennst Du das Kind auf den Flügeln der Fantasie?“, flüstert mir da der Wind zu. Und ich weiß, irgendwie begegne ich ihm ständig in mir und auch um mich herum, irgendwo habe ich dieses Kind getroffen, irgendwann ganz bestimmt.
„Kennst Du das Kind auf den Flügeln der Fantasie?“, frage ich nun auch Dich. Deine Antwort kann ich nicht hören. Ich denke, dass Du irgendwie so bist, wie ich, nur eben anders und dass Du genauso viele Fragen hast, wie ich, nur eben andere.
So groß ist diese Welt, mit so viel Platz für so viele Fragen und Gedanken, die irgendwer, irgendwo, irgendwann denkt.
„Schauten wir zwei vom Mond herab auf unsere Welt, wäre diese doch sehr klein.“, sagt da das Kind auf den Flügeln der Fantasie. „Wären dann auch all‘ unsere Fragen klitzeklein?“
„Ich denke nicht.“, sage ich noch und vermute, dass es wohl die Mischung aus Fantasie, Neugierde und der Fokus auf die Welt ist, der unsere Fragen formt und uns mit ihnen wachsen lässt.
Ein ganz zauberhaftes Bilderbuch habe ich da für Dich:
„IDA UND DER FLIEGENDE WAL“
von Rebecca Gugger & Simon Röthlisberger, erschienen beim NordSüd Verlag, erzählt in zarten Worten und luftig leichten Sätzen von Gedanken und Träumen, die kommen und gehen, ungefähr so, wie eine Seifenblase, die auf Deiner Hand landet oder wie ein großer, fliegender Wal, der nachts vor Deinem Fenster auftaucht.
Die fantasievolle Geschichte stellt uns Ida vor, ein keines Mädchen, dessen kunterbunte Gedanken mindestens genauso strahlen, wie ihre gelben Gummistiefel und ihr rotes Haar. Sie wohnt in einem Birkenwäldchen, hoch oben in einem Baumhaus und hat den Kopf voller Fragen und Gedanken. Eines Nachts gerät ihr kleines Leben plötzlich mächtig ins Schwanken, als ein fliegender Wal an ihr Baumhaus stößt und sie weckt.
Gemeinsam machen sich Ida und der fliegende Wal auf eine Reise hinter die Sterne, irgendwie in Richtung Irgendwo ins Nirgendwo. Unterwegs erzählen sie sich einander von kleinen und großen Wundern, während der Wolkenschleier ihnen den Weg an einen witzigen Ort freigibt, an dem alles verdreht ist und anders, als Du und ich es bisher kannten.
Aber:
„Was ist schon Normal?“
fragt da auch der Wal.
Und ich weiß, was er meint: würde ich einen Kopfstand machen, wäre auch alles verkehrt und trotzdem so, wie es ist, oder?
Also fliegen auch Ida und der Wal kopfüber durch die Nacht, die immer stürmischer wird und mit Donnerknall und Blitzlichtern auf sich aufmerksam macht. Und während Ida noch denkt, dass es schön ist, in dunkler Gewitternacht nicht allein zu sein, legt sich der Sturm und hinterlässt etwas Stilles und Leeres. Es ist ein großes, weißes Nichts, hinter dessen Unsichtbarkeit sich Vieles verbirgt, denkt Ida und spürt plötzlich Einsamkeit in sich aufsteigen. Da lächelt der Wal sein sanftmütiges Wallächeln und schickt die Einsamkeit in die Ferne.
Gugger und Röthlisberger haben mit „IDA UND DER FLIEGENDE WAL“ ein Bilderbuch vorgelegt, das mit ganzseitig vielfarbigen Illustrationen, zarten Pinselstrichen und detailreichen, fantasievollen Zeichnungen kindliche Gedanken, Träume und Fragen aufs Papier bringt und greifbar macht. Die Geschichte zeigt auf, dass Fantasiereisen und Tagträumereien schön sein können, beispielsweise dann, wenn sie uns in das kunterbunte Nirgendwo mitnehmen, wo alles kopfüber und witzig ist. Gedanken und Fragen, die wir uns stellen, können aber auch Angst machen und dunkel wirken, besonders, wenn man sie alleine denkt.
Dann ist es gut, wenn man zusammen und einander verbunden ist und sich die großen Fragen des Lebens teilt. „IDA UND DER FLIEGENDE WAL“ ist eine Einladung, um mit Kindern zu philosophieren, zu träumen und Gedanken gemeinsam kommen und ziehen zu lassen.
Das Bilderbuch „IDA UND DER FLIEGENDE WAL“ wurde mir seitens des NordSüd Verlags als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Es bereichert und inspiriert mich und wird somit ganz bestimmt und ganz bald in musikpädagogischen Stunden- oder Fantasiebildern und eigenen Liedern verwoben sein.
Bibliographie: „Ida und der fliegende Wal“, Illustratoren/Autoren: Rebecca Gugger und Simon Röthlisberger, Hardcover, Maße: 24,6 x 24,4 cm, 32 Seiten, durchgehend farbig illustriert, Altersempfehlung: ab 4 Jahren, Erstauflage 2018 NordSüd Verlag AG, Zürich, Lektorat: Andrea Nasen, Druck und Bindung: Livonia Print, Riga, Lettland, 6. Auflage 2021
ISBN 978-3-314-10446-6