Der stille Stein

Mein neues Lied „Der Stein“ erzählt von einem Stein, der tief unten auf dem Meeresgrund lag. Rund und schwer war er, und so hat er vermutlich schon ziemlich lange genau an diesem Fleck, tief unten im Meer, gelegen. Denn, wie wir alle wissen, bewegen sich Steine nicht.

Zumindest nicht aus eigenen Stücken, dachte sich sicherlich auch der schöne, bunte Fisch, der diesen Stein, tief unten am Meeresgrund, sah. So einen schönen Stein wollte er schon immer einmal haben. Und so nahm der bunte Fisch den Stein einfach mit sich fort.

 

Wo er jetzt ist, wollt ihr wissen? Nun, dazu müssten wir den bunten Fisch befragen, der schon wieder abgetaucht ist, ähnlich still, wie der stille Stein.

„Blubb“ – oder auch nicht?

Auf dem Foto oben seht ihr übrigens eine Auftragsmalerei, die das Lied „Der Stein“ zur Vorlage hatte. Der kleine Künstler, der an dieser Stelle unbenannt bleiben möchte, nutzte die Lieblings-Aquarellstifte von Albrecht Dürer und eine sehr coole Collagen-Technik. Vielen Dank für das wunderschöne Kunstwerk.

Wie eingangs erwähnt, sind Steine so unterschiedlich und vielfältig, dass es vermutlich mindestens ein Lebenswerk wäre, alle Steine dieser Welt zu kategorisieren.

Wenn wir Form, Farbe und Gewicht jedoch unbeachtet lassen und nur die Dynamik in Erwägung ziehen, könnte es leichter sein:

Lege alle stillen Steine in den einen Korb und alle lauten Steine in den anderen. So oder ähnlich könnte die Aufgabe klingen und bestimmt stellen wir uns jetzt das gleiche Ergebnis vor, oder?

 

In unseren Musikstunden ist an dieser Stelle nur die große Ocean Drum zu hören, die das herrliche Meeresrauschen nachahmt. Alle Kieselsteine, die Großen und die Kleinen, liegen stumm daneben.

Das Bilderbuch „Der stille Stein“ von Brendan Wenzel, erschienen beim Nord Süd Verlag, berichtet

von einem Stein, der dort ist, wo er ist, einfach so ist.

So ist es nunmal, mit dem Stein.

Er liegt dort und Tage kommen und gehen. Es wird hell und wieder dunkel. Der Stein, mal scheint er hell, mal scheint er dunkel, wirkt so, als würde er immer gleich und doch anders sein.

Zuerst kommt die Maus und sie klettert auf den großen, dunklen Stein und ißt eine Haselnuss. Nachts läßt sich die Eule auf dem Stein nieder, der im Mondschein hell leuchtet, als könnte der Mond sich in ihm spiegeln. Während die Schlange auf dem Stein liegt, ist er still wie nichts. Doch als die Möwe eine Muschel auf ihn fallen lässt, ist er laut, wie eine Muschel, die zerbricht.

Für die Schnecke fühlt sich der Stein rau an. Für das Stachelschwein ist er glatt. Und je nachdem, wie tief die Sonne steht und wie seidig das Licht vom Himmel fällt, scheint der Stein mal grün, mal rot, mal lila und mal blau zu sein.

Der Stein bleibt ein Stein und ist, wie er ist. Doch die Natur und die Jahreszeiten um ihn herum verändern sich. Und auch die Tiere, die zu ihm finden, schauen ihn alle aus anderen Augen an. Brendan Wenzel versteht es, mit nur wenigen Worten von der Wandelbarkeit der Dinge zu berichten und von der Bedeutung, die eigene Wirklichkeit zu hinterfragen.

Ist denn ein Stein wirklich so still, wie er scheint?

So ganz sicher bin ich mir nun doch nicht mehr.

Für den Einen ist er Unterschlupf, für den Anderen vielleicht ein guter Ort um Auszuruhen. Aus den Augen eines Kindes, ist ein Stein vielleicht ein ganz besonderer Schatz am Wegesrand, während er durch die Brille eines Anderen der Stolperstein im Weg sein kann. So ein Perspektivwechsel kann die eigene Welt schon ganz schön durcheinanderwirbeln, oder?

Wer die Welt hin und wieder mit anderen Augen und aus einem anderen Standpunkt betrachtet, entdeckt vielleicht die vermeintlich unscheinbaren Dinge am Wegesrand?

„Der stille Stein“ ist ein Bilderbuch voller Poesie. Es ist eine Einladung zu kindgerechter Meditation in Bildern, die achtsam und einfühlsam den Fokus  auf die kleinen Dinge lenkt. Die ganzseitig farbigen Illustrationen vereinen harmonisch gedeckte Farben, die angenehm und beruhigend das Gesamtkonzept unterstreichen.

In einer so schnellen und lauten Welt ist dieses Bilderbuch ein Geschenk, das der Stille, zwischen all‘ den akustischen Reizen, einen ganz besonderen Platz einräumt.

Das Bilderbuch „Der stille Stein“ von Brendan Wenzel wurde mir zur Rezension vom Nord Süd Verlag zur Verfügung gestellt.

Bibliografie: 

Autor/Illustrator: Brendan Wenzel, übersetzt von Thomas Bodmer, Nord Süd Verlag, 2. Auflage 2021, Hardcover, 56 Seiten, Format: 28 x 23 cm, durchgehend farbig illustriert, Altersempfehlung: ab 5 Jahren

Die englische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel A Stone Sat Still bei Chronicle Books LLC, San Francisco, Kalifornien, Text und Illustrationen von Brendan Wenzel 2019

ISBN: 978-3-314-10501-2